Wahrnehmung durch ein Closed-Loop-Paradigma betrachten
Die Forschungsmeinungen, wie Menschen die Welt wahrnehmen, lassen sich in zwei Lager einteilen. Auf der Seite der Open-Loop-Wahrnehmung geht wird davon ausgegangen, dass Wahrnehmung auf internen Repräsentationen beruht, die durch externe Reize ausgelöst werden. Das andere Lager betrachtet die Wahrnehmung durch ein Closed-Loop-Paradigma, bei dem die Wahrnehmung durch ständige Interaktion und Konvergenz zwischen Gehirn/Körper und Umwelt entsteht. Was ist nun richtig? Das ist die Millionenfrage, die das Team des EU-finanzierten Projekts HOWPER beantworten wird. „Mit der Klärung der Frage, ob die Wahrnehmung in einem offenen oder geschlossenen Kreislauf funktioniert, zielen wir darauf ab, eine entscheidende Orientierungshilfe für die Gestaltung von Experimenten und die Interpretation empirischer Daten in den Neurowissenschaften, der Psychologie und der Kognitionswissenschaft zu liefern“, sagt Ehud Ahissar(öffnet in neuem Fenster), Professor für Hirnforschung am Weizmann-Institut für Wissenschaften(öffnet in neuem Fenster), dem koordinierenden Projektpartner. Die Projektarbeit erhielt Unterstützung vom Europäischen Forschungsrat(öffnet in neuem Fenster).
Rückendeckung für das Closed-Loop-Paradigma
Das Projektteam wird mithilfe der Verknüpfung von Theorie, Experimenten und Synthese sowie durch die Zusammenarbeit von Forschenden aus den Bereichen Neurowissenschaft, Kognitionswissenschaft, Robotik und rechnergestützter Modellierung ein einheitliches Verständnis der Wahrnehmung liefern, das sowohl mit beobachteten Daten als auch mit modelliertem Verhalten übereinstimmt. Es wurde herausgefunden, dass die Wahrnehmung bei Säugetieren in einem Prozess mit geschlossenem Kreislauf abläuft, der mit dem Closed-Loop-Paradigma übereinstimmt. Diese Erkenntnis, die empirisch beim menschlichen Sehen und Berühren sowie bei Berührung von Nagetieren bestätigt wurde, stellt eine bedeutende Abkehr von den traditionellen Open-Loop-Wahrnehmungsmodellen dar. „Anhand der starken empirischen und theoretischen Stützung des Closed-Loop-Paradigmas hat das Projektteam das grundlegende Verständnis in den Neuro- und Kognitionswissenschaften neu gestaltet“, erklärt Ahissar.
Ein universelles Organisationsprinzip der Wahrnehmung
Ein weiteres wichtiges Projektergebnis war die Einführung des Gehirn-Gehirn- und Gehirn-Welt-Dualismus. „Dieser neuartige theoretische Rahmen erweitert den Ansatz des Closed-Loop-Paradigmas zu einer breiteren Theorie der kognitiven Struktur, wobei zwischen sozialen und sinnlichen Wahrnehmungsschleifen unterschieden wird und diese integriert werden“, erklärt Ahissar. Die Forschenden fanden außerdem Belege dafür, dass die Closed-Loop-Mechanismen nicht auf die kortikale Verarbeitung beschränkt sind, sondern auch in den sensomotorischen Schaltkreisen des Mittelhirns sowie in den grundlegendsten sensomotorischen Schaltkreisen des Hirnstamms zum Einsatz kommen. Diese Ergebnisse legen nahe, dass das Closed-Loop-Paradigma ein universelles Organisationsprinzip der Wahrnehmung bei Säugetieren darstellen könnte.
Von der Wahrnehmung zu künstlichen Systemen
Auch wenn diese Erkenntnisse einen bahnbrechenden Fortschritt in Bezug auf unser Verständnis von Wahrnehmung repräsentieren, war damit die Projektarbeit noch nicht zu Ende. Es wurde gleichermaßen untersucht, wie die Ergebnisse in die Entwicklung künstlicher Systeme einfließen könnten, die in der Lage sind, menschenähnliche Wahrnehmungsprozesse zu imitieren oder zu simulieren. Eines dieser künstlichen Systeme verbesserte die Wahrnehmungsgenauigkeit mittels aktiver Interaktionen und lieferte einen Konzeptnachweis für die Anwendung von Prinzipien des Closed-Loop-Paradigmas in der künstlichen Intelligenz und Robotik. Laut Ahissar besitzt dieser Arbeitsbereich das Potenzial, assistive Technologien für Menschen mit Sinnesbeeinträchtigungen zu verbessern. „Wenn wir verstehen, wie Wahrnehmung aktiv konstruiert oder ergänzt werden kann, können wir wirkungsvollere Mittel entwickeln, um fehlende sensorische Informationen zu vermitteln und somit die Zugänglichkeit und Lebensqualität zu verbessern“, fügt er hinzu.
Eine vereinheitlichende kognitive Theorie
Von der experimentellen Feststellung der Closed-Loop-Beschaffenheit der Säugetierwahrnehmung über die Entwicklung von Vorrichtungen zur künstlichen Wahrnehmung bis hin zur Formulierung einer vereinheitlichenden kognitiven Theorie erbrachte die Arbeit des Projektteams sowohl theoretische als auch praktische Durchbrüche. „Durch die entscheidende Beilegung der langjährigen Debatte zwischen Open- und Closed-Loop-Wahrnehmungsmodellen sowie durch die Schaffung der Grundlage für transformative Anwendungen hat das HOWPER-Team die wissenschaftliche Erkenntnis vorangebracht sowie assistiven Technologien und maschineller Intelligenz den Weg bereitet“, schließt Ahissar. Die Forschenden arbeiten nun daran, die zahlreichen Erkenntnisse des Projekts auf verschiedenen Gebieten in konkrete Anwendungen umzusetzen.